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Sechs Grubenunglücke ereigneten sich
allein im Jahr 1900. Repro: Gerntrup
Von Wilhelm Gerntrup
Porta Westfalica-Kleinenbremen (mt). Eine Kette tödlicher Unfälle
auf der Kleinenbremer Zeche Wohlverwahrt löste vor 100 Jahren Trauer, Wut
und Entsetzen aus.
Zu Weihnachten wurde für die Witwen und Waisen eine nicht alltägliche
Bescherung organisiert. Über Geschichte und wirtschaftliche Entwicklung
der Kleinenbremer Eisenerzzeche Wohlverwahrt ist schon viel nachgedacht
und geschrieben worden. Weniger bekannt sind die Lebensverhältnisse der
dort über 60 Jahre unter Tage arbeitenden Menschen. Besonders unfallträchtig
war die Zeit zwischen dem Start des Gesteinsabbaus (1885) und der vorübergehenden
Stillegung im Jahre 1923.
Die Bergleute mussten Knochenarbeit leisten, die Sicherheitsstandards
waren miserabel. Die immer eindringlicher vorgetragenen Forderungen der
Arbeiter und ein Streik im Jahre 1891 prallten an den Bossen im fernen
Ruhrgebiet ab. Der Betrieb gehörte der Dortmunder Union. Die Gesundheit
der Arbeiter im fernen Bauerndorf Kleinenbremen spielte keine sonderlich
große Rolle. Die Folge: Im Laufe von 40 Jahren gab es rund 60 Tote und
Schwerverletzte.
Allein im Jahre 1900 schlug das Unglück innerhalb eines halben Jahres
sechs Mal zu. Für das größte Aufsehen sorgte ein Ereignis, das sich am
12. Dezember abspielte. Es war Samstagmittag, kurz nach Schichtbeginn.
Eine Sprengzündung ging hoch, bevor sich Karl Drinkuth aus Kleinenbremen
und Friedrich Kruse aus Luhden in Sicherheit bringen konnten. Ihre Körper
wurden durch die Wucht der Detonation in Stücke gerissen. Die Betriebsführung
reagierte routiniert.
"Sie haben leider bei dem gefährlichen Werke wohl nicht die nöthige
Vorsicht gebraucht", war in der Pressemitteilung zu lesen. In den
Folgetagen wurde das ganze Ausmaß der Tragödie deutlich. Zwei junge
Frauen hatten den Ehemann, fünf Kinder zwischen ein und fünf Jahren ihre
Väter verloren. Im Dorf und in der Umgebung machten sich Entsetzen, Wut
und Mitgefühl breit. Nur wenige Monate zuvor hatte es bereits fünf ähnlich
schwere Unfälle mit drei Toten und einem halben Dutzend Schwerverletzten
gegeben.
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In zwei Fällen waren Frauen mit jeweils fünf
Kindern betroffen. Drei Bergleute hatten mit zerschmetterten Gliedern
monatelang im Bückeburger Krankenhaus liegen müssen. Für die Familien
bedeutete der Verlust des Ernährers neben Leid und Tränen auch
finanzielle Not. Die Witwen- und Waisenversorgung reichte zum Überleben
nicht aus. Das Sterbegeld betrug 30 Mark.
In dieser Situation startete der Chef des Bückeburger
Krankenhauses, Dr. Reinhard Weiß, eine einmalige Hilfs- und
Solidarisierungsaktion. Kurz vor Weihnachten erschien in den umliegenden
Tageszeitungen eine auffällige Anzeige mit der Überschrift
"Bitte!". Es folgte eine Schilderung des Anliegens und der
Vorgeschichte. Zum Schluß warb der Arzt um kleine Geldbeträge und
Kolonialwaren sowie für die Kinder Kleidungsstücke und Spielsachen.
Penible Abrechnung der Spenden
Er werde alles den betroffenen Familien am Heiligabend selbst ins Haus
bringen, kündigte Weiß an. Gleich nach den Festtagen gab Weiß per
Zeitungsanzeige das Ergebnis bekannt. Dabei listete er auf den Pfennig
genau alle Einzelpositionen auf. Insgesamt waren mehr als 60 Geld- und
Sachspenden im Gesamtwert von weit über 300 Mark zusammengekommen eine für
damalige Verhältnisse außergewöhnlich hohe Summe.
Auf Vorschlag des Kleinenbremer Pastors Heinrich Strathmann wurden nicht
nur die Witwen und Waisen des 12. Dezember, sondern auch die
Hinterbliebenen der vorausgegangenen Unfälle bedacht. Von den Spendern
gab Weiß nur die Anfangsbuchstaben der Namen bekannt. Die Einzelbeträge
lagen zwischen 50 Pfennig und 10 Mark. Ein anonymer Spender hatte 50 Mark
in einen Umschlag gesteckt - den Gerüchten zufolge der Initiator selbst.
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27.12.2003
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